Kernforderungen der Opferberatungsstellen in NRW für die Koalitionsverhandlungen
Hintergrundpapier der Opferberatungsstellen für Betroffene extrem rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt für die Koalitionsverhandlungen
Die Opferberatung Rheinland (OBR) mit Sitz in Düsseldorf und BackUp in Dortmund beraten seit nunmehr zehn Jahren Betroffene extrem rechter, rassistischer, antisemitischer und anderer menschenfeindlicher Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen (NRW). Die nachfolgenden Forderungen wurden auf Basis einer langjährigen Beratungserfahrung vor dem Hintergrund der Landtagswahl vom 15.05.2022 und mit Blick auf die anstehenden Koalitionsverhandlungen entwickelt. Die Opferberatungsstellen verweisen dabei ergänzend auf das Forderungspapier der Mobilen Beratungen gegen Rechtsextremismus in NRW vom 17. Mai 2022.
1. Stärkung von Betroffenenperspektiven und der Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte, rassifizierten Menschen und Menschen mit anderweitigen Diskriminierungserfahrungen
- In strafrechtlichen Ermittlungsverfahren muss die Betroffenenperspektive zentral Berücksichtigung finden, um möglichen rechten, rassistischen, antisemitischen oder anderen politischen Tatmotivation nachgehen und eine konsequente strafrechtliche Verfolgung der Täter*innen gewährleisten zu können.[i]
- Die Perspektiven und Erfahrungen von Betroffenen müssen in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Rassismus und Rechtsextremismus die Basis für gesellschaftspolitische Veränderungsprozesse darstellen und stärkere Berücksichtigung erfahren.
- Es bedarf einer weitreichenden Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte und rassifizierten Menschen in NRW, die im gesellschaftlichen Leben insgesamt und vor allem in politischen Institutionen massiv unterrepräsentiert sind.
2. Ernennung eines*einer (Anti-) Rassismus-Beauftragten der Landesregierung
- Ergänzend zum wichtigen Amt der Antisemitismusbeauftragten in NRW ist die Einrichtung des Amtes eines*einer (Anti-) Rassismusbeauftragten bei der Landesregierung erforderlich, der*die die Landesregierung berät und (in Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in diesem Bereich) Anstrengungen in Bezug auf die Stärkung von Betroffenen und in Bezug auf die rechtlichen Möglichkeiten hinsichtlich des Schutzes vor struktureller Diskriminierung bündelt.
3. Aufenthaltsrecht für Betroffene rechter Gewalt
- Es bedarf einer Erweiterung des Opferschutzes im Aufenthaltsgesetz in Form eines humanitären Bleiberechts für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus als deutliches Signal des Gesetzgebers, sich den politischen Zielen der Täter*innen entgegen zu stellen.
- Die Initiativen der Bundesländer Brandenburg[ii], Berlin, Thüringen und Bremen zeigen den gegebenen Handlungsspielraum der Länder und können gemeinsam mit der darauf basierenden Bundesratsinitiative[iii] sowie dem Gesetzesentwurf auf Bundesebene[iv] als positive Bezugspunkte dienen.
4. Materielle Sicherheit von Betroffenen und sozialem Umfeld gewährleisten, wirksamer Opferschutz
- Überlebende, Hinterbliebene und Verletzte schwerer rassistischer, antisemitischer und rechtsterroristischer Gewalttaten benötigen eine unbürokratische Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung.
- Die „Stiftung Opferschutz Nordrhein-Westfalen“[v] kann hier ein wichtiges Instrument darstellen, eine unbürokratische Form der materiellen Unterstützung für Betroffene zu leisten. Die konkrete Umsetzung dieses Vorhabens muss sich zentral an den Lebensrealitäten der betroffenen Personen orientieren.
- Es bedarf der Einrichtung eines Notfallfonds aus öffentlichen Mitteln auf Landesebene, um im Falle rechtsterroristischer Anschläge eine adäquate Versorgung und Unterstützung von Verletzten, Überlebenden, Angehörigen und Zeug*innen gewährleisten zu können. Dies beinhaltet die Notwendigkeit einer situativen Aufstockung der Ressourcen von Beratungsstrukturen in NRW, um im Falle eines Großschadensereignisses in NRW eine mittel- und langfristige Unterstützung von Betroffenen sicherstellen zu können.
5. Ausbau und dauerhafte Absicherung der spezialisierten Opferberatungsstellen
- Opferberatungsstellen unterliegen einem erhöhten Bedarf an Ressourcen, um Zugänge zu Betroffenen zu erschließen, Unterstützungsangebote zu übermitteln und um eine kontinuierliche Arbeit mit den Betroffenen aufrechterhalten zu können. Dabei sind ein zugehender, also proaktiver Ansatz sowie eine enorme Niedrigschwelligkeit der Beratungsstellen obligatorisch. Die aktuellen personellen und finanziellen Ressourcen werden den kontinuierlich hohen Zahlen rechter Gewalttaten in NRW[vi] nicht gerecht und ermöglichen lediglich eine Arbeit an der stetigen Belastungs- bzw. Überlastungsgrenze der Mitarbeiter*innen.
- Die Einrichtung der Meldestellen in NRW ist ein wichtiger Schritt, um das Dunkelfeld menschenfeindlicher Gewalt weiter zu erhellen. Betroffene, die in diesem Kontext Vorfälle melden, sind jedoch auf eine weiterführende professionelle Beratung angewiesen. Es ist davon auszugehen, dass die Einrichtung der Meldestellen das Fallaufkommen und den Beratungsbedarf bei den spezialisierten Opferberatungsstellen weiter ansteigen lässt.
- Die Opferberatungsstellen OBR und BackUp fordern daher eine Aufstockung der bestehenden Förderung um 200.000 Euro pro Beratungsstelle sowie die Verstetigung des Beratungsangebots entgegen der bisherigen Projektfinanzierung.
[i] Vgl. Deutscher Bundestag Drucksache 17/14600 (2013) S.861. https://dserver.bundestag.de/btd/17/146/1714600.pdf
[ii] https://bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/erl_nr_8_2016
[iii] Bundesrat Drucksache 79/18 (2018). https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2018/0001-0100/79-18.pdf?__blob=publicationFile&v=1
[iv] Deutscher Bundestag Drucksache 19/6197 (2018). https://dserver.bundestag.de/btd/19/061/1906197.pdf
[v] Landtag Nordrhein-Westfalen Drucksache 17/15877 (2021). https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-15877.pdf
[vi] https://www.opferberatung-rheinland.de/aktuelles/detail/pressemitteilung-05052022-monitoring-nrw-2021